In der Umsetzung des Bundesgesetzes in das jeweilige Landesrecht gibt es zum Teil gravierende Verzögerungen und Fehlentwicklungen.

1. Vorbemerkung

Das 2016 verabschiedete und in seinem wichtigsten Teil 2020 in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz bzw. nun das SGB IX ist von der Fachwelt und dem Menschen mit Behinderungen ganz überwiegend in seinen Intentionen begrüßt worden. Allgemein herrschte die Auffassung, dass nun in der Gesellschaft, der Sozialpolitik sowie der unterstützenden Leistungen auf der Grundlage der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) ein
»Paradigmenwechsel« initiiert worden ist, der auf Selbstbestimmung, Inklusion und Teilhabe abzielt und den es zu unterstützen gilt. Selten gab es einen derart breiten Konsens zwischen den Beteiligten.

Allerdings gibt es in der Umsetzung des Bundesgesetzes in das jeweilige Landesrecht zum Teil gravierende Verzögerungen. Darüber hinaus zeichnet sich die Tendenz ab, dass bei der Umsetzung in den Ländern und Kommunen Regelungen, Verfahren, Auslegungen und Gepflogenheiten entwickelt werden, die dazu führen können, dass die oben genannten Intentionen des BTHG und SGB IX durch die Leistungsträger und Leistungserbringer nicht nur konterkariert, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Aus verschiedenen Regionen Deutschlands werden uns Entwicklungen berichtet, die uns Anlass zur Sorge geben und zu dieser Stellungnahme veranlasst haben. Unser Augenmerk liegt hierbei auf Menschen mit seelischen Behinderungen. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich im §1 des SGB IX erkannt, dass den besonderen Bedürfnissen der Menschen mit seelischen Behinderungen Rechnung zu tragen ist. Für diese Zielgruppe muss gewährleistet sein, dass der vom Gesetz zugesicherte Anspruch auf Teilhabe besondere Aufmerksamkeit verdient – vor allem für Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen.

2. Umsetzung im Bereich Bildung

Bisher waren Bildungsleistungen der »Sozialen Teilhabe« zugeordnet. Mit dem BTHG hat der Gesetzgeber nun eine neue Leistungsgruppe »Teilhabe an Bildung« geschaffen (§ 5 SGB IX). Damit wird klargestellt, dass Teilhabe an Bildung eine eigene Reha-Leistung ist! Gemäß § 75 SGB IX werden »unterstützende Leistungen« erbracht, die erforderlich sind, damit Menschen mit Behinderungen Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können. Jedoch haben bis heute Politik, Verwaltung und Bildungsinstitutionen diesen Gesetzesauftrag nicht entsprechend gestaltet. Wir beobachten, dass in diesem Bereich bis heute die Berufsschulen, Fachschulen und Hochschulen noch nicht in der Weise geöffnet haben, dass reguläre Bildungsangebote für alle bereitstehen. Dafür notwendige Förderinstrumente gibt es bis heute nicht.

Die Grundausstattung mit den entsprechenden Medien und die entsprechende Schulung zur gleichberechtigten Teilhabe zum Beispiel an Online-gestützten Bildungsmaßnahmen muss gerade auch für diesen Personenkreis sichergestellt werden. Seit 2020 können (hoch-)schulische und berufliche Weiterbildungen gefördert werden (§ 112 Abs. 2 SGB IX). Im Rahmen der Eingliederungshilfe ist zum Beispiel die Übernahme der behinderungsbedingten Kosten für ein Masterstudium möglich. Assistenzleistungen zur Begleitung können in Anspruch genommen werden. Weitere Unterstützungsleistungen sind etwa Hilfen zur Teilnahme an Fernunterricht oder Hilfen zur Ableistung eines Praktikums (§ 112 Abs. 3 SGB IX n.F.). Für weiterführende hochschulische Angebote muss kein Leistungs- und Befähigungsnachweis mehr erbracht werden.

Folgt man der allgemeinen Auffassung, so ist die Frage der schulischen und beruflichen Bildung, insbesondere auch der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung eine ganz entscheidende Grundlage für gesellschaftliche Inklusion, Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben. Das Recht auf Arbeit (Art. 27 UN-BRK) kann nur verwirklicht werden, wenn zuvor das Recht auf Bildung umfassend eingelöst wird, also auch das berufsbildende System und lebenslanges Lernen in der Fort- und Weiterbildung entsprechend des Art. 24 UN-BRK umschließt. Eine konsequente Förderung der EX-IN-Ausbildungen über die Eingliederungshilfeträger würde der Forderung nach Partizipation im Sinne des BTHG wesentlich entsprechen. Der Bildungsansatz von Recovery- und Empowerment Colleges schließt an den vorangegangenen Punkt an.

3. Umsetzung im Bereich der sozialen Teilhabe

3.1. Antragsleistung (§108 SGB IX)

Die Leistungen zur sozialen Teilhabe werden nur noch auf Antrag gewährt. Das entspricht einerseits der Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung, jedoch wird in den Behörden unterschiedlich interpretiert, was denn ein »Antrag« sei. Wenn der Staat nicht hinreichend seiner
Schutzpflicht nachkommt, können sich negative Folgen für die Betroffenen ergeben: Es zeichnen sich ggf. neue Exklusionsgrenzen ab, die diejenigen vom Leistungsausschluss bedrohen, die ihre Hilfsbedürftigkeit für sich selbst nicht anerkennen können, die entsprechenden Funktions-, Aktivitäts- oder Teilhabebeeinträchtigungen nicht erkennen und/oder (bisher) noch keine Lebensperspektiven oder Teilhabeziele entwickeln konnten. Hier sind dringend Maßnahmen auch schon im Vorfeld formaler Leistungsplanung erforderlich, die gewährleisten, dass auch diese Menschen Hilfen erhalten, um überhaupt Perspektiven und Ziele entwickeln zu können. Dies gilt insbesondere für die Beratung vor einer konkreten Beantragung von Leistungen.

Es ist darüber hinaus zu befürchten, dass die genannten Probleme dazu führen können, jene Menschen unter eine gesetzliche Betreuung zu stellen, um ihre Ansprüche an die Eingliederungshilfe durchzusetzen. Dass Menschen ihrer Selbstständigkeit beraubt werden, um Leistungen zu erhalten widerspricht aber der grundlegenden Intention der Reform des Betreuungsgesetzes. In den Ausführungsvorschriften zur Eingliederungshilfe der Länder ist darauf zu achten, dass diese Befürchtung nicht eintritt.

3.2. Wunsch- und Wahlrecht (§104 SGB IX)

Mit dem SGB IX ist eine auf Selbstbestimmung und Teilhabe Strategie verbunden, die vor allem auf eigenständige Lebensführung im eigenen Wohnraum setzt. Teilhabeleistungen sollen in erster Linie ambulant, aufsuchend oder im Sozialraum erbracht werden. Dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten ist zu entsprechen, soweit dies angemessen und zumutbar ist. Es wird dazu kommen, dass Menschen aus unterschiedlichen Gründen umziehen wollen. Hierbei kann es zu Schwierigkeiten kommen, wenn Menschen aus dem Zuständigkeitsbereich eines Trägers der Eingliederungshilfe in den eines anderen umziehen wollen oder Menschen in eine andere »Wohnform« wechseln wollen, zum Beispiel wenn sie aus einer eigenen Wohnung in eine »besondere Wohnform« wechseln wollen.

Die Schwierigkeiten können besonders dann kulminieren, wenn die beiden oben genannten Aspekte zusammenkommen und die betroffenen Menschen Grundsicherungs- bzw. Bürgergeldbezieher:innen sind. Hier wird von Einzelfällen berichtet, in denen die zuständigen Stellen Mietzahlungen verweigern, mit der Begründung, dass die Mieten für solche Wohnformen nicht übernommen werden können. Derartige Regelungen oder Entscheidungen sind mit der UNBRK nicht vereinbar und stellen eine unrechtmäßige Diskriminierung dar.

3.3. Trennung von existenzsichernden Leistungen und Fachleistungen in besonderen Wohnformen (§ 42a SGB XII)

Grundsätzlich ist die Trennung von existenzsichernden Leistungen und Fachleistungen im Rahmen des BTHG zu begrüßen. Allerdings birgt diese Trennung nicht nur erhebliche Risiken für die Leistungserbringer, sondern auch für die Leistungsberechtigten. Ihnen kann der Verlust der Selbstbestimmung drohen. Die Trennung der Leistungen hat für die Leistungsberechtigten die Folge, dass sie nun ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten, wie zum Beispiel Mietzahlungen, Telefon etc. eigenständig mit einem eigenen Konto regeln müssen. Hierzu benötigen sie zum Teil erhebliche Unterstützungsleistungen, die Leistungserbringer (oder auch Angehörige) insbesondere durch folgende Praktiken unterlaufen. Eine Reihe von Betreibern »besonderer Wohnformen« verlangt von ihren »Bewohner:innen«, dass sie grundsätzlich eine rechtliche Betreuung beantragen, um so Verwaltungsabläufe reibungsloser zu gestalten.

Darüber hinaus nutzen eine Reihe von Leistungserbringern das Instrument der »Abtretungsvollmacht«, um fällige Mietzahlungen oder ähnliches direkt von den zuständigen Stellen überwiesen zu bekommen, um dadurch ihr Ausfallrisiko zu minimieren. Unterstützt bzw. induziert werden derartige Praktiken auch dadurch, dass Träger der Eingliederungshilfe Leistungen zur Unterstützung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit nicht finanzieren (wollen) und versuchen, die entsprechenden Unterstützungsleistungen an die gesetzlichen Betreuer:innen zu delegieren, auch wenn dies nicht rechtlich bzw. fachlich geboten scheint, wie zum Beispiel als Übergangsregelung für Menschen mit langjähriger Heimkarriere. Diese hin und wieder zu beobachtenden Praktiken sind jedoch mit der Intention des SGB IX und UN-BRK nicht vereinbar. Darüber hinaus gehören Unterstützungsleistungen der wirtschaftlichen Selbständigkeit unbedingt zum Leistungsspektrum der Eingliederungshilfe, da sie »Befähigungsleistungen« im ICF-Lebensbereich 8 darstellen.
Die genannten Praktiken stellen einen erheblichen Bruch mit den Prinzipien von SGB IX und UNBRK dar und drohen die Intentionen in ihr Gegenteil zu verkehren!

3.4. Assistenzleistungen (§ 78 SGB IX)

Die Trennung der Assistenzleistungen in sog. »Assistenzleistungen« und »qualifizierte Assistenzleistungen« zur Befähigung ist insbesondere für Menschen mit seelischen Behinderungen kaum durchzuführen und kann für die betroffenen Menschen fatale Folgen haben: So ist zum Beispiel die Begleitung eines Menschen mit sozialen Ängsten zu Ärzten, Behörden, Sportverein etc. eine Befähigungsleistung (qualifizierte Assistenz), die eine hohe sozialtherapeutische Kompetenz erfordert. Dasselbe kann zum Beispiel auch für die Begleitung in öffentlichen Verkehrsmitteln gelten (z.B. im Rahmen einer Expositionstherapie). Auch die Einkaufsbegleitung eines Menschen mit sozialen Ängsten oder in Phasen von Depression oder Manie kann eine sozialtherapeutische Herausforderung und entsprechend professionelle Unterstützung bedeuten. Es gilt das »Finalprinzip« und nicht das »Verrichtungsprinzip«. Neben gelegentlich auftretenden Missverständnissen bezüglich der Qualifizierung einer notwendigen Leistung erscheinen vor allem Strategien und Tendenzen der Träger der Eingliederungshilfe bedenklich, die die Intention haben, Kosten einzusparen. Die Passung der Assistenzleistung an die aktuellen Erfordernisse erfordern eine hohe fachliche Kompetenz und Erfahrung und insbesondere auch situative Flexibilität. Äußerliche einfach erscheinende Vorgänge können sich intrapsychisch bei dem Betroffenen ganz anders darstellen und in einem scheinbar unverfänglichen Kontext zu Überforderungssituationen führen, die einer professionellen Flankierung bedürfen. Daher muss das Assistenzgeschehen individuell und situativ
angepasst werden können und kann nicht statisch festgeschrieben werden.

3.5. Ermittlung des Hilfebedarfs (§§ 117 ff SGB IX)

Die Ermittlung des Hilfebedarfs ist gekoppelt an ein jeweils länderspezifisch entwickeltes Hilfebedarfsinstrument, welches sich an der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) orientiert. In den Bundesländern wurden sehr unterschiedliche Instrumente entwickelt, die zwei Dinge gemeinsam haben: Sie sind äußerst umfangreich, oft mehr als 30 Seiten lang, und sie berücksichtigen Funktionsbeeinträchtigungen oft nur unzureichend. Darüber hinaus werden – gerade für Menschen mit seelischen Behinderungen bedeutsam – Lebensgeschichte und/oder lebensgeschichtlich bedeutsame Ereignisse des Leistungsberechtigten nicht hinreichend berücksichtigt. Dies bezieht sich z.B. auf traumatisierende Erfahrungen aber auch auf Kompetenzen
und Ressourcen. Hierdurch können wichtige und für den Rehabilitationsprozess bedeutsame Informationen unterdrückt werden. Darüber hinaus ist die »Rehistorisierung« der eigenen Lebensgeschichte eine wichtige Voraussetzung für die Identitätsbildung und damit eine wichtige Voraussetzung für den Rehabilitationsprozess insbesondere für Menschen mit einer langen »Institutionskarriere.« Hierdurch wurden Chancen vertan, die Qualität der Bedarfserhebung und Hilfeplanung auf einer einheitlichen und professionellen Grundlage zu entwickeln.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Ermittlung des Hilfebedarfs ein langwieriger Prozess sein kann, der auf keinen Fall innerhalb weniger Stunden zu bewerkstelligen ist, sondern angemessene Zeit beanspruchen muss. Insbesondere bei einer Erst-Ermittlung ist zu berücksichtigen, dass sich im Einzelfall Beeinträchtigungen erst im Zeitverlauf bemerkbar machen können. Auch die Zielsetzungen können sich im Zeitverlauf ändern. Eine flexible Handhabung und ggf. »Neujustierung« der Inhalte des Instrumentes bzw. des Prozesses selbst ist deshalb unausweichlich, da sonst die Maßnahmen ins Leere laufen oder kontraindiziert sein können. Die Ermittlung des Hilfebedarfs bei seelisch behinderten Menschen ist eine sozialtherapeutisch
höchst anspruchsvolle interaktive Tätigkeit – insbesondere dann, wenn die komplexen Wechselwirkungen mit Umwelt auf der einen und dem besonderen Feld der therapeutischen Interventionen zum Beispiel nach SGB V auf der anderen Seite mit in den Blick genommen werden.

Hierbei ist das Prinzip der »gleichen Augenhöhe« eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung. Tatsächlich kommt es hier auf eine sensible, einfühlende und auf Verstehen gerichtete Haltung der Fachkräfte an, die unbedingt einer entsprechend qualifizierten Ausbildung bedarf. Eine 
unqualifizierte Handhabung der Instrumente kann dazu führen, dass nicht nur die Interaktion asymmetrisch verläuft, sondern das Instrument in sein Gegenteil verkehrt wird und zu einem Instrument der »Demütugung« und »Entrechtung« mutiert. Die Qualifizierung vor allem vieler Teilhabeberater:innen ist immer noch sehr defizitär. In einer Veranstaltung der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVFR) wurde jüngst festgestellt, dass sowohl die Teilhabeberater:innen sowie auch begutachtende Ärzt:innen unzureichende Kenntnisse der ICF haben. Dies ist ein nicht hinnehmbarer Zustand, da eine Bedarfserhebung durch nicht ausreichend qualifizierte Personen die rechtliche Wirksamkeit beeinträchtigt. Ein Zusammenhang mit der oben genannten Einbeziehung der Leistungsberechtigten liegt auf der Hand. Auch hier kann von dem oft genannten Postulat »auf gleicher Augenhöhe« keine Rede sein, dies gilt auch für die Anforderung der »Passgenauigkeit«.

Ganz besonders misslich ist, dass mit der Umsetzung des BTHG/SGB IX in vielen Regionen die Ermittlung des Hilfebedarfes im Rahmen von Hilfeplankonferenzen, Steuerungsgruppen etc. abgeschafft wurden. Das gilt insbesondere für die Erst-Ermittlungen. Diese Entwicklung ist ein gravierender Rückschritt für die gemeindepsychiatrischen Hilfesysteme, da hier durch das für die Psychiatrie bedeutsame Prinzip des Trialogs sowie des multiperspektivischen, und »Vollständigkeit der Wahrnehmung« anstrebenden Vorgehens, zum Beispiel im »Open Dialogue«, zugunsten eines
administrativen Vorgehens aufgegeben wird. Von dem oft propagierten Prinzip der »gleichen Augenhöhe« kann keine Rede sein. Dies verletzt jegliche sozialpsychiatrische Standards und ist ein Rückschritt in Richtung eines administrativen und nicht auf Partizipation ausgerichteten Sozialstaats.

Der »Offene Dialog« als Grundprinzip einer integrierten Teilhabe- und Therapieplanung unter Einbeziehung des relevanten Umfeldes ist durchaus hilfreich für eine komplexe Bedarfsfeststellung und bedürfnisangepasste Planung.

3.6 Teilhabeplanverfahren (§19 und §20 SGB IX)

Die Vereinfachung von Verwaltungsverfahren, wie z.B. die Prüfung von Einkommen und Vermögen, die Partizipation bei der Bedarfserhebung und -feststellung, die Beteiligung am gesamten Prozess in den Teilhabe- und Gesamtplankonferenzen oder auch die streng gefassten Fristen, ist ein signifikanter Baustein zur Verbesserung der Lebenslagen auch von Menschen mit seelischen Behinderungen. Die hierfür in das SGB IX übernommen Regelungen finden in der Praxis bislang oft keine Anwendung. Stattdessen existiert in ganz Deutschland eine Flut überbordender Verwaltungsverfahren, die einer »Partizipation auf Augenhöhe« widersprechen. Genannt seien hier z.B. die Bedarfsermittlungs- und Leistungsplanungsinstrumenten (s.o.), denen sowohl die »Fallmanager« der Teilhabeämter als auch vor allem die Leistungsempfänger:innen hilflos gegenüberstehen.

Einige Beispiele:

  • Menschen mit Behinderungen oder auch ihre rechtlichen Betreuer:innen werden nach einer Beantragung von Leistungen der Eingliederungshilfe nicht zur Bedarfserhebung eingeladen, sondern erhalten stattdessen eine schriftliche Aufforderung zur ICF-konformen Darstellung ihrer Beeinträchtigungen, Teilhabesituation und Hilfebedarfen mit Fristsetzung sowie einen Hinweis auf ihre Mitwirkungspflicht. Ergänzt werden diese Aufforderungen um die Aufforderung zur Beibringung sämtlicher bei Ärzt:innen und Kassen vorliegenden Krankenakten über psychische und somatische Erkrankungen, teilweise mit Röntgenbildern. Sollten diesen Aufforderungen nicht fristgerecht entsprochen werden, wird mit Leistungsverweigerung wegen Verletzung der
    Mitwirkungspflicht gedroht. Diese zum Teil rechtswidrigen Maßnahmen stellen eine eindeutige Verletzung der Partizipations- und Mitwirkungsrechte der Leistungsempfänger:innen dar. Hier wird Partizipation zur einseitigen Pflicht, die mit Sanktionen belegt wird, sollte ihr nicht nachgekommen werden. Die Teilhabeämter scheinen auf diese Weise ihre Pflichten als »Leistende Rehabilitationsträger« zu externalisieren und/oder auch die Fristenregelungen des
    SGB IX zu umgehen.
  • Die an einigen Stellen im SGB IX ausführlich erwähnten Teilhabe- und Gesamtplankonferenzen haben bisher so gut wie nicht stattgefunden. Auch die vielfach angekündigten Hausbesuche oder Erhebungen im Sozialraum sind bisher kaum und wenn ja, in einigen Fällen unangemeldet, durchgeführt worden. Hierdurch wird nicht nur die Partizipation der Leistungsberechtigten, sondern auch die notwendige multidisziplinäre Bedarfserhebung und Leistungsplanung behindert bzw. verunmöglicht.
  • Insbesondere die notwendige Einbeziehung der (möglichen) Leistungserbringer im gesetzlich geregelten Gesamtplanungsprozess der Bedarfserhebung sowie der Ziel- und Leistungsplanung ist nicht überall gewährleistet. Diese findet oft unter dem Signum eines Misstrauens gegenüber den Leistungserbringern statt. Durch eine solche »systematische Schäbigkeitsvermutung« werden wichtige und notwendige fachliche Ressourcen sowie der Grundsatz der Multidisziplinarität außer Acht gelassen, und es ist zu bezweifeln, dass Bedarfe hinreichend qualifiziert und lebensweltorientiert eingeschätzt werden können.
  • Mit der Anhebung der Einkommens- und Vermögensgrenzen in der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wurde die Hoffnung genährt, dass auch das Verfahren stark vereinfacht wird und in Zukunft ein Steuerbescheid ausreichend wäre. Auch diese Hoffnung hat sich nicht bewahrheitet. Stattdessen sind die Prüfverfahren im besten Falle gleichgeblieben. In vielen Regionen haben sie sich allerdings stark verkompliziert. Unter der Vorgabe der Kosteneinsparung, das durch die Corona-Krise und nun auch durch die Folgen des russischen Angriffskrieges verschärft wurde, zeigt sich in der die Umsetzung der (Verwaltungs-) verfahren, dass viele Regelungen des SGB IX in Ihr Gegenteil verkehrt zu werden drohen.

4. Umsetzung im Bereich Arbeit

4.1. Zuverdienste

Zuverdienste bieten ein niedrigschwelliges Beschäftigungsangebot gerade für Menschen mit schweren seelischen Behinderungen. Ihre Finanzierung war bisher schon unsicher und durch das BTHG haben die Zuverdienste ihre Rechtsgrundlage verloren. Gerade für schwer beeinträchtigte Menschen fallen hierdurch nicht nur Beschäftigungsangebote, sondern auch Möglichkeiten sinnstiftender Tätigkeit und Tagesstrukturierung weg und damit wichtige Teilhabemöglichkeiten. Der Bundesverband der Inklusionsunternehmen (bag if) hat in diesem Zusammenhang wichtige Vorschläge zu einer Finanzierung gemacht.

Ergänzend hierzu erscheint es aus unserer Sicht sowohl möglich bzw. erforderlich, Zuverdiensten als ein Baustein gemeindepsychiatrischer Grundversorgung eine gesetzliche Grundlage zu geben, zum Beispiel im Rahmen des Psych-KG, und darüber hinaus sie zu Pflichtleistungen im Sinne der
Daseinsfürsorge der Kommunen zu erklären und über kommunale Zuwendungen zu finanzieren

4.2. Beschäftigungs- Tagesstätten 

Auch sind vielerorts sog. (Beschäftigungs-)Tagesstätten mit der Umsetzung des SGB IX in große Gefahr geraten. Allerdings bieten Sie wichtige Hilfestellungen und Trainingsmöglichkeiten gerade für Menschen mit großen sozialen Schwierigkeiten und stellen »Schutzräume« für die soziale Teilhabe dar und zum Teil auch spezielle Trainingsmöglichkeiten zur Entwicklung sozialer Kompetenzen. Der Wegfall derartiger Einrichtungen wäre ein großer Rückschritt für die Gemeindepsychiatrie.

Hier bedarf es grundlegender Anstrengungen, um Teilhabe außerhalb der Sonderräume im Gemeinwesen zu erschließen und parallel dazu die bestehenden Angebote inklusiv zu öffnen unter Achtung der Balance zwischen Schutzbedürfnis und »Normalisierung«.

4.3. Andere Leistungsanbieter (§ 60 SGB IX)

Diese sog. »Alternativen zur Werkstatt« sind vom Gesetzgeber u.a. deshalb eingerichtet worden, um angemessene Beschäftigung für Menschen mit seelischen Behinderungen auch in kleineren bzw. spezialisierten Betrieben zu sichern. Allerdings sind diese Möglichkeiten bisher bei weitem noch nicht hinreichend ausgeschöpft. Die bürokratischen Hürden zur Anerkennung als »anderer Leistungsanbieter« in vielen Fällen zu hoch. Das gilt insbesondere für die Arbeitsagenturen.

4.4. Budget für Arbeit (§ 61 SGB IX)

Das Budget für Arbeit bietet für Menschen mit Behinderungen eine gute Möglichkeit, auch jenseits der WfbM auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfolgreich und »inklusiv« teilhaben zu können. Dies zeigen die bestehenden umgesetzten Budgets für Arbeit zum Beispiel in Hamburg, Rheinland-Pfalz,
Schleswig-Holstein und anderen. Hier ist dem Gesetzgeber ein Kunstwerk gelungen, indem Menschen, die Anspruch auf eine Beschäftigung in einer WfbM haben, also erwerbsgemindert sind, Unterstützungsleistungen für eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit zu erhalten. Allerdings wird vom Budget für Arbeit unerklärlicherweise wenig Gebrauch gemacht; hier müssten Strategien entwickelt werden, unter welchen Voraussetzungen Menschen mit Behinderung das Angebot annehmen können. Eine Barriere besteht auch darin, dass die Rentenversicherungsbeiträge im Budget für Arbeit niedriger sind als in der WfbM und somit auch die späteren Rentenansprüche.

5. Zusammenarbeit (§ 96 SGB IX)

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von allen Akteuren im Hilfeerbringungsprozess ist gerade im Hinblick auf die Menschen mit komplexen Hilfebedarfen ein seit langem gefordertes Paradigma. Zwar hat der Bundesgesetzgeber mit dem § 96 die Zusammenarbeit »… mit anderen Stellen« im
Absatz 1 verankert und auch in der Begründung des Paragrafen ausgeführt, dass »die Leistungen der Eingliederungshilfe (…) nur dann den gewünschten Erfolg bei den Leistungsberechtigten erzielen (können) wenn alle Stellen, deren gesetzliche Aufgaben dem gleichen Ziel dienen, zusammenarbeiten.«

Die Regelung verpflichtet die Träger der Eingliederungshilfe allgemein zur Zusammenarbeit mit den Leistungsanbietern und anderen Stellen, deren Aufgabe die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen betrifft. Hierdurch soll gewährleistet sein, dass sich die Leistungen »zum Wohle des
Leistungsempfängers wirksam ergänzen« (§ 17 (3) SGB I). So wie der Leistungserbringer die Qualität und Wirksamkeit nachzuweisen hat, müsste sich diese
Forderung auch an die Leistungsträger hinsichtlich ihrer Kooperation richten. Darüber hinaus: Dem Zusammenwirken unterschiedlicher Leistungsträger und -erbringer auch im Sinne der Grundsätze des § 17 SGB I ausgestaltet werden.

Wir beobachten im Umsetzungsprozess in den Ländern, dass gerade auf der Ebene des Einzelfalls die Verpflichtung zur Zusammenarbeit bestenfalls von vielen Leistungsträgern missverstanden wird. Nicht wenige Leistungsträger scheinen ihre Verantwortung darin zu sehen, Bedarfe zu erheben, Verwaltungsverfahren zu erlassen und Leistungserbringer als ausführende Dienstleister zu verstehen. Eine Zusammenarbeit der professionell Tätigen in einer Verantwortungsgemeinschaft gegenüber der Leistungsberechtigten, im Sinne einer gemeinsam erbrachten Dienstleistung wie aus einer Hand scheint in weiter Ferne. Dies muss sich ändern.

6. Indirekte Gefährdungen durch die Anforderungen an die Leistungserbringer durch das Vertragsrecht

Die Leistungserbringer stehen mit Einführung des SGB IX unter einem erhöhten Druck. Das bezieht sich vor allem auf a) die Gestaltung der Preise unter drastisch verschärfte Wettbewerbsbedingungen sowie b) auf die Evaluierung der »Wirksamkeit« durch die Träger der EinglH., mit der Gefahr, dass sich dies letztendlich insbesondere negativ auf die Leistungsberechtigten auswirkt.
a) Der verschärfte Preiswettbewerb kann zu einer »Abwärtsspirale« führen, der bei den Leistungserbringern in der Folge dazu führen kann, dass das Qualifikationsniveau der Leistungserbringungen auch bei »Befähigungsleistungen« sinkt. Die Folgen liegen auf der Hand und Multidisziplinarität wird nicht beachtet.
b) Insbesondere in Verbindung mit einer Befristung von Leistungen (siehe oben) können zum Beispiel Regelungen zur Fristsetzung von »Zielerreichung« nicht nur den Leistungserbringer, sondern auch und gerade den/die Leistungsempfänger:in unter erheblichen Druck setzen.
c) Es muss mit besonderem Augenmaß die Wirksamkeitsmessung anhand von objektivierbaren Zielen gerade bei dem Personenkreis beachtet werden, bei dem wesentliche Prozesse unsichtbar sind und sich dem engen unmittelbaren Kausalzusammenhang von Maßnahme und Wirkung häufig entziehen. Daher ist zu befürchten, dass eine rigide Evaluierung des »Zielerreichungsgrades« die notwendige Flexibilität der Leistungserbringung und eine symmetrische Beziehungsgestaltung »auf Augenhöhe« untergräbt.

7. Teilhabe in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Ungleichheit

Seit vielen Jahren wird über das Auseinanderdriften gesellschaftlicher Gruppen berichtet. Insbesondere hinsichtlich des sozioökonomischen Status von Arbeit, Einkommen und Bildung geht die Schere in der Bevölkerung zunehmend auseinander. Die Lebenswelten von sozial schwachen und sozioökonomisch privilegierten Bevölkerungsgruppen driften immer weiter auseinander, auch die Möglichkeit der sozialen Mobilität nimmt ab. Hiervon sind im besonderen Maße Menschen mit Behinderungen betroffen, vor allem auch psychisch erkrankte bzw. seelisch behinderte Menschen.

Menschen mit Behinderungen verfügen im Vergleich mit der gesamten Bevölkerung über weniger Einkommen und Vermögen; die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch; sie verfügen über weniger Bildung und Ausbildung und ihr Gesundheitszustand ist schlechter. Insbesondere das Auftreten psychischer Erkrankung ist eng verbunden mit dem sozioökonomischen Status. Menschen mit seelischen Behinderungen haben weniger soziale Beziehungen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Darüber hinaus machen insbesondere Menschen mit schweren seelischen Behinderungen vielfältige Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen. Obwohl hierüber keine validen statistischen Daten vorliegen muss angenommen werden, dass die soziale Lebenslage von (seelisch) behinderten Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, sich noch einmal dramatisch verschärft. Hier machen sich die Wechselbeziehungen zwischen Beeinträchtigungen und Barrieren besonders bemerkbar. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass die Infrastruktur sozialpsychiatrischer Hilfen zur Teilhabe in Deutschland von erheblichen Disparitäten gekennzeichnet ist. Das betrifft insbesondere den Grad der Ambulantisierung bzw. Alternativen zu den sog. »besonderen Wohnformen«. Eine an Lebenschancen orientierte Politik der Inklusion muss sich daran messen lassen, dass sie an dieser Situation signifikant etwas ändert.

Die kritische Betrachtung dieser Entwicklung in ihren Konsequenzen mündet in der Befürchtung, dass in Zukunft möglicherweise nur noch jene Menschen eine effektive und professionelle Hilfe erhalten werden, die die Gewähr dafür bieten, motiviert, fähig und bereit zu sein, sich für sich selbst zu engagieren.

Berlin, der 19.10.2022

DGSP Fachausschuss Psychiatrie 4.0
Redaktion Uwe Brohl-Zubert | Christian Reumschüssel-Wienert
Der Vorstand
Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Eugen Berker, Angehöriger eines Forensikpatienten mit eigener Psychiatrieerfahrung

Ich bin Mitglied in der DGSP, weil...

"... man hier gut seine Sorgen, Ängste und auch Kritik äußern kann. Da ist mir wichtig, weil in Hessen Psychiatriepolitik häufig sehr konservativ ist und sich wenig am Wohlergehen der Patienten in der Allgemein- wie auch in der Forensischen Psychiatrie orientiert."

Dr. Klaus Obert, Dipl.-Sozialpädagoge

Ich bin Mitglied in der DGSP, weil...

"... ich der Meinung bin, dass sich sozialpsychiatrisches Denken und Handeln im Sinne des Trialogs unverändert in der DGSP wiederfindet, kontrovers, lebhaft und durchaus kritisch solidarisch diskutiert wird. Vor allem finde ich es beeindruckend, dass zunehmend junge Kolleg/-innen wieder anzutreffen sind und die Beteiligung von Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen selbstverständlich wird." 

Gemeinsam stark!

Drei Gründe für Deine Mitgliedschaft in der DGSP.

Gib Deiner Stimme mehr Gewicht!

In der DGSP kommen Menschen zusammen, die sich für die Rechte von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen einsetzen und deren gemeindenahe Versorgung vorantreiben wollen.

Betrachte alle Seiten! 

Die DGSP bietet Dir eine starke, multiperspektivische Gemeinschaft, in der Du Dich aktiv austauschen und kreativ einmischen kannst.

Sichere Dir die Vorteile!

Mitglieder und Mitarbeitende von Mitgliedsinstitutionen erhalten attraktive Preisnachlässe bei DGSP-Veranstaltungen und vierteljährlich die Fachzeitschrift "Soziale Psychiatrie".