Problemlage

  1. Es gibt weit verbreitete Ängste in der Bevölkerung vor der Unberechenbarkeit und potentiellen Gefährlichkeit von Menschen mit psychischen Erkrankungen; die Psychiatrie selbst hat durch Wegsperren über Jahrhunderte zu diesem negativen Bild beigetragen.
  2. Diese Ängste haben sich zuletzt eher verstärkt: Zwar wird eine Depression etwas stärker akzeptiert als 1990, bei der Einstellung zu einer Person mit Schizophrenie ist hingegen die Akzeptanz seitdem deutlich gesunken (Fritz Thyssen Stiftung 2018-2020).
  3. Bei Attentaten ohne direkt ersichtliches Motiv konfrontieren uns die Medien mit Vorurteilen gegenüber betroffenen Menschen (z.B. titelte der Stern am 26. Juni 2021: »Islamistischer Anschlag, Tat eines psychisch Kranken? Motivsuche in Würzburg«, der Spiegel am 27. November 2020 zum Attentäter von Hanau: »Psychisch krank – und ein Rassist«, die Zeit am 4. Juli 2021: »Psychisch kranke Einzeltäter: Unsichtbare Einzeltäter. Die Zahl von Einzeltätern mit psychischen Störungen nimmt zu«).

Studienlage

  1. Untersuchung von Wolfgang Böker und Heinz Häfner über die »Gewalttaten Geistesgestörter« von 1973: »Psychisch Kranke« und »geistig Behinderte« waren nicht häufiger, aber auch nicht seltener gewalttätig als die Durchschnittsbevölkerung (Menschen mit einer Psychose lagen etwas über dem Durchschnitt). Symposien von Finzen 1997 und Hodgins 2000 legen nahe, dass diese Relation von der jeweiligen Gesellschaft abhängig ist: Je größer die allgemeine Bereitschaft zur Gewalt in einer Gesellschaft, desto seltener sind Menschen mit psychischer Erkrankung in Relation gewalttätig.
  2. Spätere Studien gehen in ähnliche Richtung aber nicht ganz so weit: Eine Übersichtsarbeit für den Nervenarzt (Maier et al. 2016) bestätigt, dass das Gewaltrisiko, das von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ausgeht, tatsächlich überschätzt wird. Sie sind viel häufiger Opfer von Gewalt, als dass sie Täter:innen sind. Andere Merkmale (männliches Geschlecht, jüngeres Alter) haben erheblich größeren Einfluss auf das Gewaltrisiko als die Erkrankung, außerdem sind soziale Belastungen als Begleiterscheinungen der Erkrankung ausschlaggebend für das Gewaltrisiko (Obdachlosigkeit, fehlende soziale oder medizinische Unterstützung, Alkohol- und Drogenmissbrauch) (Hodgins 2000). Jedoch: Ein erhöhtes Gewaltrisiko bei Menschen mit psychischen Krankheiten kann nicht vollständig verneint werden (Schomerus/ Spindler auf Grundlage der Studien Maier et al. 2016 und Stevens et al. 2015).
  3. Die Gewalt betrifft nicht alle Menschen mit psychiatrischer Diagnose in gleicher Weise und tritt nicht häufiger auf, als bei anderen sozialen Gruppen, wie bspw. arbeitslosen Jugendlichen, Männern im dritten Lebensjahrzehnt, oder bei Personen, die Alkohol oder Medikamente missbrauchen (Finzen).
  4. Das Gewaltrisiko ist in den ersten sechs Monaten nach einem Klinikaufenthalt erhöht und kann durch kompetente Nachbetreuung verringert werden (bestätigt in einer Studie von Mohan 2000, nach Finzen). 5. Opfer von Menschen mit psychischer Erkrankung sind meist Beziehungspartner*innen (bestätigt in einer Studie von Estroff 2000, nach Finzen).

Literatur

  • Finzen, A.: Stigma Psychische Krankheit. Zum Umgang mit Vorurteilen, Schuldzuweisungen und Diskriminierungen, Köln, 2013
  • FRITZ THYSSEN STIFTUNG JOURNAL (2018-2020): Haltungen zu und Akzeptanz von Menschen mit psychischen Krankheiten, https://journal.fritz-thyssen-stiftung.de/haltungen-zu-und-akzeptanz-von-menschenmit-psychischen-krankheiten/ (abgerufen am 24.01.2022)
  • Maier, W.; I. Hauth; M. Berger; H. Sass (2016). Zwischenmenschliche Gewalt im Kontext affektiver und psychotischer Störungen. Nervenarzt 87 (1): 53 – 68
  • Schomerus, G.; Finzen, A. (2016). Probleme und Impliktionen der Einschätzung des Gewaltrisikos von psychisch kranken Menschen. Psychiatr Prax43 (7): 355 – 356
  • Schomerus, G; Spindler, P. (2019). Gewaltrisiko, psychische Krankheit und Stigma. Eine Herausforderung für die Sozialpsychiatrie. Sozialpsychiatrische Informationen 49 (1): 13-14
  • Stevens, H.; T. M. Laursen; P. B. Mortensen; E. Agerbo; K. Dean (2015). Post-illness-onset risk of offending across the full spectrum of psychiatric disorders. Psychol Med 45 (11): 2447 – 2457

Unsere Position

  1. Die Art und die Häufigkeit von Aggressionstaten und Gewalthandlungen von Menschen mit einer Psychose rechtfertigen das Vorurteil von Unberechenbarkeit und besonderer Gefährlichkeit in keiner Weise (Finzen).
  2. Als gefährdet und gefährlich beurteilte Menschen mit psychischer Erkrankung müssen eine angemessene, rechtzeitige und kontinuierliche psychiatrische Behandlung erfahren, dann kann das Risiko gefährlicher Taten mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Minimum verringert werden (Finzen). Leider gibt es fast 50 Jahre nach der Psychiatrie-Enquête viele Lücken in der Versorgung, es mangelt an einer Kooperation der SpDi sowie an einer angemessenen Begleitung und passenden Anlaufstellen (auch für Angehörige und besorgte Menschen im direkten Umfeld der Betroffenen). Eine bessere Leistungskoordination und die Miteinbeziehung der Eingliederungshilfe müssen zu Grunde liegen, damit Krisendienste wirksam werden können.
  3. Die Forderung nach einer restriktiveren Psychiatrie verfehlt das Ziel der Prävention: Niemand würde auf die Idee kommen, arbeitslose Jugendliche oder Männer zwischen zwanzig und dreißig wegzusperren. Die Bekämpfung der Krankheiten ist das Ziel, nicht der Menschen mit psychischen Krankheiten (Finzen).
  4. Strafrechtlich verurteilte Patient:innen sind in der Psychiatrie oftmals weniger interessant, weil sie Ressourcen binden und Nerven kosten. Sie laufen deshalb Gefahr, im Versorgungssystem vernachlässigt zu werden (Schomerus/Spindler). Jedoch sind alle in der Psychiatrie Tätigen in der Verantwortung, sich um diese Menschen zu kümmern.
  5. Auch Menschen mit psychischer Erkrankung haben ein Recht darauf, »in Würde und in Freiheit unter uns zu leben« (Finzen).
  6. Studien und Rechenmodelle dürfen nicht dazu führen, dass verschiedene stigmatisierte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.
  7. Es muss eine individuelle Risikoeinschätzung bei jedem einzelnen geben. In einem therapeutischen Setting muss die Möglichkeit von Gewalt überhaupt erstmal in Erwägung gezogen und das Gewaltrisiko abgeschätzt werden. Gewaltgedanken müssen genauso routinemäßig exploriert werden wie Suizidalität. Eine individuelle Beurteilung der Gefährlichkeit im Sinne von Risikomanagement, etwa nach dem Vorbild der forensischen Psychiatrie muss stattfinden. Die unmittelbaren Bezugspersonen eines Menschen mit erhöhtem Gewaltrisiko müssen trialogisch über dieses Risiko aufgeklärt werden (Schomerus/Spindler).
  8. Beim Einsatz gegen das Stigma psychischer Krankheit müssen die schwierigen Verläufe im Blick sein, Behandler:innen sollten sich für die innere Haltung ihren Patient:innen gegenüber stets an den schwierigsten Verläufen orientieren und das Versorgungssystem von den Schwächsten her denken (Schomerus/Spindler).
Eugen Berker, Angehöriger eines Forensikpatienten mit eigener Psychiatrieerfahrung

Ich bin Mitglied in der DGSP, weil...

"... man hier gut seine Sorgen, Ängste und auch Kritik äußern kann. Da ist mir wichtig, weil in Hessen Psychiatriepolitik häufig sehr konservativ ist und sich wenig am Wohlergehen der Patienten in der Allgemein- wie auch in der Forensischen Psychiatrie orientiert."

Dr. Klaus Obert, Dipl.-Sozialpädagoge

Ich bin Mitglied in der DGSP, weil...

"... ich der Meinung bin, dass sich sozialpsychiatrisches Denken und Handeln im Sinne des Trialogs unverändert in der DGSP wiederfindet, kontrovers, lebhaft und durchaus kritisch solidarisch diskutiert wird. Vor allem finde ich es beeindruckend, dass zunehmend junge Kolleg/-innen wieder anzutreffen sind und die Beteiligung von Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen selbstverständlich wird." 

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