Armut und Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Erkrankungen – was n(T)un? - 16.-18. November 2023 in Marburg
Laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hatte die Armut in Deutschland im Jahr 2021 bereits einen historischen Höchststand erreicht. Durch die steigenden Energiekosten infolge des Krieges in der Ukraine und die hohe Inflationsrate hat sich die Lage weiter verschärft. Dabei ist Armut nicht nur mit ökonomischen Defiziten verbunden, sondern auch mit mangelnder Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen und Ausgrenzungserfahrungen.
Die Wechselwirkung von Armut und psychischen Erkrankungen ist klar: Armut macht krank – psychische Erkrankungen wiederum können Menschen in die Armut führen. Eine „soziale“ Psychiatrie, die das Individuum innerhalb seiner gesellschaftlichen Bedingungen berücksichtigt, muss sich daher auch mit dem Zusammenhang zwischen Armut und sozialen Ungleichheiten einerseits und der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen andererseits befassen.
Auf unserer Jahrestagung 2023 haben wir uns deshalb mit unterschiedlichen Aspekten rund um das Thema Armut auseinandergesetzt:
- Welche Erscheinungsformen hat Armut?
- Welche Folgen hat Armut für psychisch erkrankte Menschen in ihrem sozialen Umfeld?
- Welche Rolle spielen Scham und Stigma in der Psychiatrie?
- Wo und wie erhalten einkommensarme Menschen, die psychisch erkrankt sind, Unterstützung?
- Welche Projekte aus der Praxis können uns Hinweise darauf liefern, was hilfreich ist?
- Welche Aufgaben ergeben sich aus unseren Analysen für die psychiatrische Landschaft und den Staat, der sich zur Förderung der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen verpflichtet hat?
Unterstützt wurde die Veranstaltung von der Stadt Marburg, durch deren Förderung wir die Teilnahmegebühren für Menschen mit geringen Einkommen zu einem niedrigeren Preis anbieten konnten. Vielen Dank dafür auch an Oberbürgermeister Thomas Spies, der die Teilnehmenden zum Auftakt begrüßt hat.
Ein großer Dank geht auch an Klaus Radetzki, der alle Fotos gemacht hat, sofern sie nicht anders gekennzeichnet sind.
Rund 400 Tagungsgäste waren trotz kurzfristig anberaumtem Bahnstreik nach Marburg gekommen. Die Tagung fand in der Evangeliumshalle im Stadtteil Wehrda statt. Zu ihrem Gelingen trugen beeindruckende Referenten und Referentinnen bei, diskussionsfreudige Teilnehmer:innen und eine gute Vorbereitung durch die Mitglieder des DGSP-Landesverbands Hessen und der DGSP-Geschäftsstelle.
Rahmenprogramm
Auf der Veranstaltung der Stiftung für Soziale Psychiatrie sprachen Dr. Steffen Dörre (Hessisches Institut für Landesgeschichte, Marburg) und Holger Heupel (HOLIRE Community Care, Frankfurt a.M.) zu psychiatriehistorischen Themen. Christian Reumschüssel-Wienert von der Stiftung führte durch den Abend.
Im Vorprogramm der Jahrestagung fand in Kooperation mit EX-IN Hessen e.V. ein Symposium zum Thema "Stigma und Scham in der Psychiatrie" statt. Zunächst stellte das Trialogische Wissenschaftsforum Gießen mit Prof. Christoph Mulert (Direktor Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Gießen/UKGM), Julia Kistner (EX-IN-Hessen e.V., Erfahrungsexpertin) und Andreas Jung (EX-IN-Genesungsbegleiter, EX-IN-Dozent und DGSP-Vorstandsmitglied) eigene Forschungsergebnisse zu Stigma und Scham vor. Amélie Methner moderierte. Anschließend referierte Maria Schröder (wissenschaftl. Mitarbeiterin AG Beratung und Teilhabe, Instistut Erziehungswissenschaft der Uni Marburg) aktuelle Forschungsergebnisse zur Stigmatisierung von Menschen im Maßregelvollzug.
Tagungsprogramm Tag 1
Stefan Corda-Zitzen (Vorstandsmitglied der DGSP) und Daniela Glagla (DGSP-Geschäftsstelle) führten durch den ersten Tag. Nach den Begrüßungsworten von Christel Achberger (1. Vorsitzende der DGSP) hieß auch Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies alle Teilnehmenden in Marburg herzlich willkommen.
Thelke Scholz, EX-IN-Trainerin und freiberufliche Dozentin in der Sozialpsychiatrie sowie Vorstandsmitglied der DGSP, sprach aus persönlicher Sicht über "Dimensionen von Armut - Was psychische Erkrankung nimmt".
Ebenfalls digital konnte PD Dr. med. Stefan Gutwinski (Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin) teilnehmen. Sein Thema war "Armut von Menschen in der klinischen Versorgung und die Bedeutung für das Entlassmanagement".
Tagungsprogramm Tag 2
Am zweiten Tag moderierten Jessica Reichstein (Vorstandsmitglied der DGSP) und Paco Leuschner (Sozialpädagoge, St. Elisabeth-Verein Marburg). Jede:r Referent:in wurde mit kleinen Introfilmen eingeführt, zudem war Matthias Messinger auf der Bühne und hielt das Tagungsgeschehen mit Graphic Paintings fest.
Den Auftakt zum Thema "Lebensqualität und Armut" machte Stefanie Schreiter (Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin), die für ihren Input online zugeschaltet war. Anschließend tauschten sich Claudia Schulz und Andreas Jung aus persönlicher Perspektive zur Fragestellung aus.
Verena Perwanger (Dr.in, Primarärztin des Psychiatrischen Dienstes Meran) berichtete über die Bedingungen und Angebote sozialpsychiatrischer Versorgung in Südtirol und sprach in diesem Zusammenhang über "Vermeidung von Zwang in der Akutversorgung - gemeindenahe Organisationsmodelle als Chance gegen Armut und Ausgrenzung".
Prof. Dr. med. Florian Metzger (Ärztlicher Direktor der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina) informierte in seinem Vortrag über die "Stationsäquivalente Behandlung - ein Modell auch für Menschen, die wenig haben".
Schließlich berichtete Christine Heinrichs (Sozialpädagogin, Bereichsleiterin Hilfen in sozialen Notlagen, stv. Geschäftsführerin Frankfurter Verein) am Beispiel der aufsuchenden Hilfen des Kältebus der Abteilung Hilfen in sozialen Notlagen im Frankfurter Verein zur Frage "Psychisch krank, arm, obdachlos: Wie können Menschen auf der Straße erreicht werden?".
Nachmittags fanden sich die Tagungsgäste dann in 14 verschiedenen Workshops zusammen, bevor es abends zur Tagungsfete in die Marburger Waggonhalle ging.
Tagungsprogramm Tag 3
Durch den dritten Tagungstag wurden die Teilnehmenden von Constantin von Gatterburg (Vorstandsmitglied DGSP-Landesverband Hessen) und Patrick Nieswand (DGSP-Geschäftsstelle) geführt.
Prof. Dr. Volker Busch-Gertseema (Soziologe, Projektleiter/Vorstand, Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung, Bremen) griff das letzte Thema des Vortags auf und berichtete Ergebnisse zur Fragestellung "Wohnungslose psychisch Erkrankte zwischen Schnittstellen der Hilfesysteme. Ist Housing First eine gute Option?".
Dr. Helen Niemeyer (Psycholog. Psychotherapeutin, Klinisch-Psycholog. Intervention, Wissenschaftl. Mitarbeiterin an der FU Berlin) stellte ebenfalls Forschungsergebnisse vor, hier zur Frage "Sind Psychotherapeuten etwas wählerisch? - Psychotherapie und die Versorgung von Menschen in Armut".
In ihrem Vortrag unter dem Titel "Was kann die (Bundes-)Politik wirklich zur Verhinderung von Armut und Ausgrenzung von psychisch erkrankten Menschen beitragen?" forderte die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, MdB und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Kirsten Kirsten Kappert-Gonther alle Anwesenden auf, sich für Solidarität und soziale Gerechtigkeit einzusetzen.
Abschließend konnten Jan Roscher (DGSP-Vorstand) und Christel Achberger ein Gespräch mit Sören Bartol (Parlament. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, MdB, Marburg) zum Thema "Wohnungspolitik ist Sozialpolitik: Das Recht auf ein Zuhause" führen.
Downloads Hauptvorträge
- Symposium: Stigma und Scham in der Psychiatrie
- Stephan Lessenich: Warum ist unsere Gesellschaft fortschreitend "nicht mehr normal"
- Volker Busch-Geertsema: Wohnungslose psychisch Erkrankte zwischen den Schnittstellen der Hilfesysteme. Ist Housing First eine gute Option?
- Helen Niemeyer: »Sind Psychotherapeuten etwas wählerisch?« – Psychotherapie und die Versorgung von Menschen in Armut
- Verena Perwanger: Vermeidung von Zwang in der Akutversorgung – gemeindenahe Organisationsmodelle als Chance gegen Armut und Ausgrenzung