Systemfehler? –Schwer zu erreichen ist nicht unerreichbar - 10.-12. Dezember 2022 in Leipzig
"Hard to reach" – "Schwer zu erreichen". Wer erreicht und wer verfehlt hier wen? Und warum befassen wir uns drei Tage damit, dass Menschen in der Fachdiskussion als "Systemsprenger" oder "Heavy user" bezeichnet werden? Gemeint sind sehr verschiedene Individuen: Menschen mit sogenanntem komplexem Hilfebedarf, mit herausforderndem Verhalten, mit existentiellen Problemlagen, denen zum Beispiel langandauernde Schizophrenien, schwere Psychosen, ein Migrations- oder Fluchthintergrund oder Obdachlosigkeit zu Grunde liegen. Es handelt sich um Menschen, die regelmäßigen Kontakt mit dem Hilfesystem haben, für die jedoch die Behandlungsangebote nicht passend sind. Andere Betroffene werden von dem Versorgungssystem nicht erreicht und kommen in Kontakt mit der Polizei und den Ordnungsbehörden.
Daher lag der Fokus vor allem darauf, dass für viele Menschen gerade umgekehrt Hilfs- und Unterstützungsangebote schwer zu erreichen sind. Welche Barrieren verwehren diesen Menschen die Nutzung von Angeboten, die helfen könnten, warum gibt es diese Hürden und worin bestehen sie? Wo fängt der Verantwortungsbereich der Sozialpsychiatrie an? Für wen fühlen sich in der sozialpsychiatrischen Landschaft Tätige zuständig?
Die ausverkaufte DGSP-Jahrestagung fand vom 10. bis zum 12. November 2022 zum dritten Mal in Leipzig im zentral gelegenen Kupfersaal statt. 400 Gäste fanden sich ein, um die verschiedenen Perspektiven zum Thema "Systemfehler? Schwer zu erreichen ist nicht unerreichbar" zu diskutieren. Auch das Rahmenprogramm fand großen Anklang.
Ein großer Dank geht an Klaus Radetzki, der alle Fotos gemacht hat, sofern sie nicht anders gekennzeichnet sind.
Rahmenprogramm
Schauplätze Leipziger Psychiatriegeschichte: Am Mittwochnachmittag bot Thomas Müller vom Sächsischen Psychiatriemuseum eine historische Stadtführung zur Leipziger Psychiatriegeschichte an. Um die 30 Teilnehmende erfuhren vor Ort Spannendes über den Paul Julius Möbius, Samuel Hahnemann oder auch C. F. Woyzeck und Karl May.
Veranstaltung der Stiftung für Soziale Psychiatrie: Die Herausgebenden des Fachbuchs "Hard to Reach. Schwer erreichbare Klientel unterstützen" Lisa Große und Karsten Giertz stellten ihre Arbeit vor. Lisa Große ist klinische Sozialarbeiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice Salomon-Hochschule Berlin. Karsten Giertz hat eine Vertretungsprofessur für Psychologie und Soziales an der Hochschule Neubrandenburg und ist Geschäftsführer des Landesverbandes Sozialpsychiatrie in Mecklenburg. Sie beschäftigen die "Heavy User", psychisch erkrankte Wohnungslose und die sogenannten "Systemsprenger".
Martin Osinski führte moderierend durch den Abend und gab auch der Trauer um Klaus Dörner Raum, der am 25. September 2022 in Gütersloh verstorben ist.
Symposium: Was ist psychisch krank, und wie gehen wir mit psychischer Krankheit um?": Das Symposium zum Thema "Haltung zu psychischer Erkrankung" läst ein wichtiges Fazit ziehen: Es wird mehr über psychische Störungen gesprochen. Das fördert die Akzeptanz für beispielsweise Depressionen. Andererseits mindert es im Gegeteil diejenige für Menschen mit psychotischen Erkrankungen. Vertreter:innen der von Betroffenen initiierten Forschungsgruppe "Vorurteilsfrei" waren zu Gast, genau wie Georg Schomerus und Sven Speerforck von der Klinik für Psychiatrie Leipzig.
Tagungsprogramm Tag 1
DGSP-Vorstandsvorsitzende Christel Achberger und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach begrüßten die Teilnehmenden per Video. Sozialbürgermeister der Stadt Leipzig, Thomas Fabian, kündigte spezielle Projekte und Kooperationsmodelle auch für Geflüchtete und Wohnungslose an.
Andreas Jung, Genesungsbegleiter und Vorsitzender von EX-IN Hessen, berichtete aus eigenen Erfahrungen mit Wohnungslosigkeit und Klinikaufenthalten, sowie Psychose.
Uta Gühne, Leiterin der Arbeitsgruppe "Leitlinien & Psychosoziale Versorgungsforschung" an der Universität Leipzig bestätigte aus wissenschaftlicher Perspektive, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ein höheres Risiko haben, wohnungslos zu werden und umgekehrt Wohnungslose überproportional von psychischen Erkrankungen betroffen sind.
Wolfgang Bayer, Sprecher des DGSP-Fachausschusses "Wohnen" und Experten für Besondere Wohnformen, sprach auf der Tagung über "Systemsprenger", über die viel mehr gesprochen werde, als über das System, das noch immer nicht für allen psychisch Kranken ein passendes Angebot vorhalte.
Tagungsprogramm Tag 2
Thomas Arendt referierte über die steigende Fehleranfälligkeit bei Zunahme des Gehirnvolumens und seiner Komplexität und des damit einhergehenden, häfigeren Auftretens neuropsychiatrischer Erkrankungen.
Dyrk Zedlick und Thomas Seyde, Psychiatriekoordination der Stadt Leipzig, stellten die Leipziger Sozialpsychiatrie vor. Die leipziger Arbeitsweise zeichnet sich durch die arbeit in Verantwortungsgemeinschaften und institutionsübergreifenden Konzepten für Wohnungslose und Menschen mit komplexem Hilfebedarf, sowie der Unterstützung durch die kommunale Politik aus.
Thomas Seyde moderierte anschließend eine multiperspektivische Podiumsdiskussion unter Beteiligung Dyrk Zedlicks, Gundrun Geylers vom Angehörigenverein Wege e.V., des Bürgerpolizisten und Peer-Beraters Ralf Hammer, Christian Schramms, der derzeit im Notwohnen des Durchblick e. V. lebt, Lennart Tutes, der als Mitarbeiter des Sozialdienstes der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft teilnahm und Tom Hübners vom Sozialamt Leipzig. Betont wurde vor allem die Bedeutung guter Netzwerke untereinander.
Stefan Corda-Zitzen und Dieter Schax plädierten in ihrem Vortrag für den Abbau von Barrieren in der Behandlung: Individualisierungstendenz, Angebotszentrierung,Diversifizierung von Leistungen, hochschwellige Zugänge und ein fehlender Blick über den Tellerrand stünden Teilhabe und Unterstützung entgegen. Ein gut funktionierender Gemeindepsychiatrischer Verbund (GPV) könne helfen die Strukturen des SGB übergreifender zu denken und das BTHG flexibler umzusetzen.
Tagungsprogramm Tag 3
Steffi Riedel-Heller, Direktorin am Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig, stellt die Frage: Nehmen psychische Störungen zu? Dafür sprechen eine Zunahme von Krankschreibungen aufgrund psychiatrische Diagnosen, die steigende Frühberentungen wegen psychischer Leiden und die vermehrte Verordnungen von Antidepressiva. Auf der anderen Seite stehen eine rückläufige Suizidrate und der sinkende Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol.
Katarina Stengler, Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit, konkretisierte ihre Vorrednerin: Psychische Erkrankungen haben nicht zugenommen, aber die Inanspruchnahme von Hilfen ist seit der Coronakrise angestiegen. Als Lösung führte sie settingübergreifende gemeindepsychiatrische Ansätze an. Mehr PIAs, StäB und Peer-support im ambulanten Bereich würden gebraucht, weil diese Konzepte Einlieferungen vermieden und Veränderungen in der eigenen Häuslichkeit zuließen, auch wenn es hier Grenzen gebe.
Andreas Geiger, Leiter einer Wohneinrichtung, und Martin Reker, ärztlicher Leiter der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen in Bethel, übernahmen im Anschluss mit der These: Wir haben kein Erkenntnisproblem – wir haben ein Problem in der Umsetzung. Als Gegenbeispiel beschrieben sie die nötige Beziehungsarbeit im Alltag und riefen dazu auf, nicht die Sucht in den Mittelpunkt zu stellen.
Die Abschlussrunde auf dem Podium besetzten Kirsten Kappert-Gonther, Christel Achberger, Andreas Jung und Moderator Dyrk Zedlick mit ermutigendem Austausch zwischen den Professionen. Gerade die grüne Politikerin, MdB und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses stand für die offene Tür der Politik für die Belange der Sozialpsychiatrie