»Maßregelvollzug ist Transit!«, zitiert Friedhelm Schmidt-Quernheim, Leiter der Forensischen Ambulanz der LVR-Klinik Düren, im SP-Interview den NRW-Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug Uwe Dönisch-Seidel (S. 31). Damit ist auch das Verhältnis forensische Psychiatrie und Gemeindepsychiatrie im Kern umrissen. Denn die Gemeindepsychiatrie, aus der die Patienten und Patientinnen kommen, ist und bleibt in der Verantwortung für alle ihre Bürger.
Viele Jahre lang ging der Trend in eine andere Richtung. Aktuell feiert die Sozialpsychiatrie »40 Jahre Psychiatriereform« – und muss eingestehen, dass sie die Situation psychisch kranker Straftäter zunehmend aus dem Blick verloren hat. Während der Ausbau gemeindepsychiatrischer Versorgungsformen voranschritt, war parallel ein enormer Anstieg (in den letzten zehn Jahren um zwei Drittel) der Patienten im Maßregelvollzug zu verzeichnen. Die Verweildauer (derzeit durchschnittlich acht Jahre) stieg, eine »unnötige Forensifizierung« (Nahlah Saimeh) machte sich breit. Die Gemeindepsychiatrie hat sich – so die (Selbst-)Kritik – ihrer »Kellerkinder«, der psychisch kranken Straftäter, »entledigt«, indem sie die Sorge für nicht »kompatible« Menschen vernachlässigt und diese mehr und mehr der Forensik überantwortet hat. Diese wiederum versuchte, dem öffentlichen Druck und der Forderung nach »Gefahrenabwehr« Rechnung zu tragen, was sich restriktiv auf eine Lockerungs- und Entlasspraxis auswirkte. Mehr dazu lesen Sie in dem einführenden Artikel von Heinz Kammeier, der einen fundierten Überblick zur Entwicklung und heutigen Situation des Maßregelvollzugs gibt (S. 4). Ereignisse wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen medikamentöse Zwangsbehand lung und vor allem die medial aufbereitete »Mollath-Affäre« rückten zwar die negativen Seiten des Maßregelvollzugs in oft undifferenzierter Weise ins Rampenlicht, weckten aber damit die notwendige öffentliche Aufmerksamkeit. Die längst überfällige Novellierung des § 63 StGB wurde konkret – der dazu vorgelegte Referentenentwurf aus dem Justizministerium enttäuschte jedoch die Fachwelt. Nur eine »kleine Lex Mollath« (Ilse Eichenbrenner, S. 10) ist daraus geworden, und die DGSP sowie andere Verbände haben sich frühzeitig gegen diese halbherzige Reform positioniert.
Die weiteren Beiträge dieses Heftes betrachten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei finden sich durchaus konträre Positionen: aus Sicht der Angehörigen, der Psychiatrie-Erfahrenen, aber auch aus Profi-Sicht. So fordert Uli Lewe die Abschaffung des § 63 StGB (S. 25) und vertritt damit eine Haltung, die auch der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) einnimmt.
Praxisberichte über Wohnprojekte in Bremen (S. 19) und Berlin (S. 22) geben einen Einblick, wie die Versorgung forensischer Patientinnen und Patienten in Kooperation von Maßregelvollzug und Gemeindepsychiatrie gelingen kann.
»Öffnung und Durchmischung wäre heilsam«, meint Rosi Haase vom Durchblick e.V. in Leipzig (S. 39). In diesem Sinne möchten wir auf die langjährig bewährte Fortbildung der DGSP hinweisen, die Mitarbeitende der Gemeindepsychiatrie befähigt, mit psychisch kranken Straftätern fachlich kompetent und weniger angstbesetzt umzugehen (siehe Anzeige S. 70).
In dieser Ausgabe finden Sie als Beilage einen Flyer zum DGSP-Fachtag »Flucht und Asyl: Psychiatrie in der Verantwortung – wie können wir Menschen nach der Flucht helfen?«. Die Veranstaltung findet am 15. Februar 2016 in Frankfurt am Main statt und Sie sind alle herzlich eingeladen. Auf der DGSP-Jahrestagung 2015 in Trier hat das Plenum eine Resolution zur geplanten Verschärfung des Asylrechts verabschiedet (S. 49). Die DGSP wird der Situation Schutzsuchender weiterhin ihre Aufmerksamkeit widmen und bietet in diesem Zusammenhang ab Juni 2016 die neue Fortbildung »Traumazentrierte Fachberatung« an (Anzeige S. 70).
Ein weiterer Flyer in diesem Heft informiert Sie über die DGSP-Stiftung. Näheres zum »Förderpreis der Stiftung für Soziale Psychiatrie«, der 2016 an die Bremer Initiative Blauhaus/Blaue Karawane e.V. verliehen wird, erfahren Sie auf Seite 50. Bitte beachten Sie auch die Ausschreibungen für den Forschungspreis und den Nachwuchspreis der DGSP (S. 64/65). Bewerbungen werden ab sofort entgegengenommen.
Und last, not least: Das Cover dieser Ausgabe wurde gestaltet unter Verwendung eines Fotos unseres früheren Redaktionsmitglieds Ingo Engelmann, der – seit kurzem im Ruhestand – nun vermehrt mit der Kamera
durch allerlei Landschaften zieht. Viel Spaß dabei!
Wir wünschen Ihnen einen guten Start ins neue Jahr und freuen uns wie immer auf Ihre Zuschriften.
Für die Redaktion
Michaela Hoffmann
Erschienen im Januar 2016
Heinz Kammeier
Die psychiatrische Maßregel
Gefahrenabwehr und Behandlung zwischen Selbstbestimmung und/oder Zwang
Ilse Eichenbrenner
Statt grundlegender Reform nur eine kleine »Lex Mollath«
Symposium »Psychiatrische Maßregel und Gemeindepsychiatrie«, Mai 2015 in Berlin
Gerwald Meesmann
Und wo bleiben die Angehörigen?
Claudia Franck
»Auf dem Weg zu mir«
Maßregelvollzug aus dem Blickwinkel einer Erfahrenen
Susanne Fehren
»An erster Stelle steht der Mensch«
Ambulante Betreuung im Spannungsfeld von sozialtherapeutischer Rehabilitation/Integration und gesellschaftlichem Sicherheitsbedürfnis
Die große Freiheit Nr. 126
Ein Bewohner der forensischen Wohngemeinschaft in Bremen erzählt
Helen von Massenbach
Enthospitalisierung der Maßregel
Wohnen in der Gemeinde fördert Rehabilitation und Integration
Uli Lewe
»Erst wirst du hoffnungslos und dann wirst du faul«
Was spricht gegen die Maßregel und was ist zu tun?
Hartwig Fleiß
Begegnungen mit Herrn Asef
»Die Forensik in der Gemeinde verankern«
Ein Interview mit Friedhelm Schmidt-Quernheim
Thomas Seyde
Mauern überwinden
Die forensische Versorgung als Herausforderung für die Gemeindepsychiatrie am Beispiel Leipzigs
»Öffnung und Durchmischung wäre heilsam«
Interview mit Rosi Haase, Durchblick e.V., Leipzig
Christoph Müller
»Aus der Geschäftigkeit der Forensik in die Ruhe der Kunst«
Cony Theis und das Kunstprojekt »Gefangene Geheimnisse«
Hartwig Hansen/Fritz Bremer
»Dialog-Juwelen« aus dem Gartenhaus
Neu im Paranus-Verlag: Dorothea Buck, der »Gartenhaus-Briefwechsel«
Hilde Schädle-Deininger u.a.
Auf dem Weg zur Akademisierung in der Pflege
Verknüpfung pflegerischer Weiterbildung mit dem Studium
Richard Suhre / Michaela Hoffmann
Neues aus der DGSP
Christian Nieraese
Seelische Gesundheit stiften!
Förderpreis der Stiftung für Soziale Psychiatrie 2016
Christa Widmaier-Berthold
Auf nach Europa?
Die DGSP im Kontext europäischer Sozialpsychiatrie