PRESSEMITTEILUNG

Menschenrechtliche Vorgaben und psychiatrische Wirklichkeit liegen in Deutschland noch weit auseinander

9. Dezember 2019

Anlässlich des Internationalen Tags der Menschenrechte am 10. Dezember 2019 fordert die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) erhebliche Anstrengungen bei der Umsetzung menschenrechtlicher Vorgaben in der Psychiatrie.

Seit über 100 Jahren nimmt die Psychiatrie in Deutschland einen Doppelauftrag wahr: Hilfe für den Leidenden und Kontrolle im Dienst des Gemeinwesens. Internationale und nationale rechtliche Entwicklungen wie die UN-Behindertenrechtskonvention und die nachhaltige Aufwertung des Selbstbestimmungsrechts stärken in den letzten Jahren die Rechtsposition psychiatrischer Patienten und Patientinnen. „Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie begrüßt die Stärkung der Rechte und Selbstbestimmung psychiatrischer Patienten ausdrücklich“, so Christel Achberger, erste Vorsitzende des berufsübergreifenden Fachverbands. „Gleichzeitig ist das psychiatrische Hilfe- und Unterstützungssystem hierdurch auch vor große Herausforderungen gestellt.“ Die DGSP hatte deshalb das Spannungsfeld „Hilfe und Zwang – Alter Widerspruch im neuen Gewand?“ zum Thema ihrer Jahrestagung gemacht, die mit rund 350 Teilnehmern vom 5. bis 7. Dezember 2019 in Leverkusen stattfand.

Mehr Personal und mehr Transparenz gefordert
Auf der Diskussionsveranstaltung der Stiftung für Soziale Psychiatrie, die bereits am Vorabend der Jahrestagung zum Thema „Missstände in psychiatrischen Institutionen“ eingeladen hatte,  sprach die Psychiaterin und Psychotherapeutin Margret Osterfeld, die bis November 2019 Mitglied der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter und Misshandlung war. Osterfeld schätzte die Umsetzung menschenrechtlicher Vorgaben in der Psychiatrie häufig als mangelhaft ein: „Gute Vorgaben, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention oder in den Leitlinien formuliert werden, bringen nichts, wenn sie nicht umgesetzt werden.“ Osterfeld kritisierte nicht nur Personalmangel und die hohe Anzahl an Klinikbetten in der Psychiatrie, sondern vor allem die mangelnde Dokumentation bei Freiheitsentzügen:
„Insbesondere in der stationären Psychiatrie wird viel zu häufig die Freiheit entzogen. Nirgends ist aber genau bekannt, wie viele Fixierungen und Zwangsmedikationen es überhaupt gibt.“
Um Missstände in der Psychiatrie abzubauen, forderte Osterfeld: „Natürlich brauchen wir auch mehr Personal. Vor allem aber muss dringend mehr Transparenz in das Zwangshandeln der Psychiatrie kommen! Nur so können wir Maßnahmen entgegenwirken, die menschenrechtlichen Vorgaben zuwiderlaufen.“ Außerdem verwies sie auf die unabhängigen trialogischen Beschwerdestellen, deren Aufbau die DGSP in den Jahren 2005 bis 2008 initiiert hatte (www.beschwerde-psychiatrie.de). „Menschen, die in der Psychiatrie Menschenrechtsverletzungen erleben, können sich an die Beschwerdestellen wenden. Sie sind eine wichtige Kontrollinstanz, um Machtmissbrauch in der Psychiatrie aufzuklären und ihm entgegenzuwirken“, so Osterfeld. Besuchskommissionen kämen hier häufig nicht ausreichend ihrer Pflicht nach: „Staatliche Besuchskommissionen sehen oft nicht die
Notwendigkeit, die Rechte der Patienten gegen unangemessene Zwangsmaßnahmen zu schützen.“

Psychiatrie ohne Sicherungsauftrag?
Dr. Heinz Kammeier, Jurist und Vorstandsmitglied der DGSP, zeichnete die Entwicklung und Stärkung des Rechts auf Selbstbestimmung nach, um dann als Ergebnis festzustellen: „Gemessen am bisher Erreichten müssen die rechtlichen Vorgaben bei der psychiatrischen Behandlung noch wirksamer als bisher umgesetzt werden.“ In seinem Vortrag ging er dann insbesondere auf die Änderungen im Selbstverständnis und hinsichtlich der grundlegenden Aufgaben der Psychiatrie ein: „Wir brauchen eine öffentliche Diskussion darüber, ob und wie der Hilfe- vom Sicherungsauftrag der Psychiatrie gelöst werden kann, insbesondere wenn psychisch beeinträchtigte Menschen sich nicht behandeln lassen wollen und die psychiatrisch Tätigen dies dann auch nicht mehr dürfen. Spätestens dann ist der Sicherungsauftrag der Psychiatrie grundsätzlich in Frage zu stellen.“ Er machte auch Vorschläge dazu, auf welchen Wegen die Gesellschaft Lösungen für diese Problematik suchen und entwickeln könne: „Wenn die Psychiatrie keinen Zwang mehr ausüben will oder darf, dann muss zum einen die Versorgung psychisch erkrankter Menschen in der kommunalen Region wie andererseits im Straf- und Maßregelvollzug und in der Sicherungsverwahrung verbessert, das heißt weiter ausgebaut und erheblich
gestärkt werden.“

Alternativen zum Zwang
Dr. Joachim Brandenburg sprach auf der Diskussionsveranstaltung der Stiftung für die Selbsthilfe-Organisation „Netzwerk 01 Psychiatrie-Erfahrene Köln & Umgebung“ und plädierte für alternative Behandlungsformen: „Wir wünschen uns statt der klassischen Klinikbehandlung die Einführung des Offenen Dialogs und der bedürfnisangepassten Therapie nach Yriö Alanen und Jaakko Seikkula in Finnland. Mobile Teams übernehmen dort in Akutsituationen rasch die Behandlung und begleiten den Patienten bis zur Gesundung. Die Treffen finden möglichst beim Patienten zu Hause statt, mit seinen Familienmitgliedern und seinem sozialen Netzwerk.“

Partizipation aller Beteiligten wichtig
Christel Achberger betonte: „Damit die Menschenrechte in der Psychiatrie endlich angemessen wahrgenommen, geschützt und umgesetzt werden, brauchen wir neben transparenter  Berichterstattung über Zwangsmaßnahmen sowie unabhängigen Kontrollen und Beschwerdestellen echte Partizipation aller im System involvierten Menschen. Peerberater können beispielsweise als Wächter der Patientenrechte fungieren.“ Partizipation bedeute aber auch, dass alle Mitarbeitenden im Team gleichberechtigt sprechen dürften: „Die Mitarbeitenden sollten sich berufsübergreifend mit gleichen Rechten äußern können.
Außerdem ist es wichtig, dass sie beispielsweise durch regelmäßige Supervision in der Reflexion der eigenen Arbeit unterstützt werden.“ Es brauche viele verschiedene Maßnahmen, damit der Anspruch psychiatrischer Patienten auf eine menschenrechtsbasierte und menschenwürdige Behandlung Wirklichkeit wird.

Richtigstellung:

Margret Osterfeld hat ihr internationales Mandat im UN-Unterausschuss zur Prävention von Folter und Misshandlung niedergelegt. Das Mandat bei der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter übt sie weiterhin aus.

Hintergrundinformationen
Gesetzliche Bedingungen psychiatrischer Hilfs- und Versorgungsangebote
Gesetzliche Entwicklungen haben in den letzten Jahren die Rechte psychiatrischer Patienten gestärkt. In der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), in Deutschland seit 2009 in Kraft, wird beispielsweise für Menschen mit Behinderungen das Recht auf „gleiche Anerkennung vor dem Recht“ (Artikel 12 UN-BRK) formuliert, außerdem die „Freiheit vor Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ (Artikel 15 UN-BRK) sowie der „Schutz vor Unversehrtheit der Person“ (Artikel 17 UN-BRK). Auch die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ist in der UN-BRK festgeschrieben als „die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit“, zudem „die volle und wirksame Teilhabe an der
Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ (Artikel 3 UN-BRK).
Das 2017 in Deutschland in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz, BTHG) soll dazu beitragen, dass Menschen mit psychischen oder anderen Behinderungen an der Gesellschaft besser teilhaben und selbstbestimmter leben können. Das zuletzt 2018 modifizierte Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) will unter anderem die Partizipation von Verbänden von Menschen mit Behinderungen fördern, um insbesondere Selbstvertretungsorganisationen eine aktive Teilhabe an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten zu ermöglichen.
Weiterhin tragen durch Richterrecht ausdifferenzierte Vorgaben zu Veränderungen bei der
Ausbalancierung des Doppelauftrages Hilfe und Kontrolle in der Psychiatrie bei. So fordert das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach Klagen von in der Psychiatrie fixierten Menschen im Jahr 2018 einen Richtervorbehalt für die nicht nur kurzfristige Fixierung während einer psychiatrischen Unterbringung (Urteil vom 24. Juli 2018), und am 16. Juli 2019 entschied das Oberlandesgericht Frankfurt, dass das Land Hessen einer Frau wegen unangemessener Fixierung und Zwangsmedikation ein Schmerzensgeld von 12.000 Euro zu zahlen hat.

Tagungsdokumentation
Die ausführliche Tagungsdokumentation wird in den kommenden Tagen hier eingestellt: www.dgsp-ev.de/tagungen/tagungsberichte/DGSP_Jahrestagung_2019

Über die DGSP
Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (DGSP) ist ein unabhängiger Fachverband für Sozialpsychiatrie, der sich für die Weiterentwicklung und Verbesserung menschenrechtsbasierter Hilfsangebote für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen einsetzt. Die DGSP arbeitet berufs- bzw. expertenübergreifend, das heißt, ihre Mitglieder sind psychiatrisch Tätige aller Berufsgruppen aus verschiedenen Institutionen, Psychiatrieerfahrene und deren Angehörige sowie Träger sozialpsychiatrischer Angebote.
www.dgsp-ev.de