Gegen das Vergessen - Aus der Geschichte lernen

► 2. September 2022 | Stiftung Topographie des Terrors | Berlin

Begleitveranstaltung zum Gedenken an die Opfer von Patientenmorden und Zwangssterilisation zur Zeit des Nationalsozialismus

Flyer (PDF)

 

Am 2. September 2022 fand die Gedenkveranstaltung für die Opfer von Patientenmorden und Zwangssterilisation zur Zeit des Nationalsozialismus am Mahnmal an der Tiergartenstraße 4 in Berlin statt. Begleitet wurde sie von einer Aufführung des Theaterstückes »Hierbleiben, Spuren nach Grafeneck« des inklusiven Theaters Tonne aus Reutlingen.


Im Anschluss erinnerten die Verbände des Kontaktgesprächs Psychiatrie zum 14. Mal mit einer Tagung der Opfer in der Topographie des Terrors, moderiert von Wolfgang Bayer vom Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V.  

In diesem Jahr ging der Blick unter dem Motto »Gegen das Vergessen – Aus der Geschichte lernen« zusammen mit der »Stiftung Anerkennung und Hilfe« über die Nazizeit hinaus - in die Jahre 1949 bis in die 70er der BRD und in die 90er der DDR, die als sogenannte »Heimkinderzeit« erst in den letzten Jahren angemessene Beachtung erhält. Weit nach Kriegsende kämpften Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe und psychiatrischen Einrichtungen gegen die Kontinuitäten der Geschichte, wie es Dr. Klaus Schepker vom Universitätsklinikum Ulm in einer bedrückenden Rückschau auf die »geistigen Eltern« der Euthanasiemorde in der NS-Zeit verdeutlichte. Ungeachtet der gesellschaftlichen Umstrukturierung erfuhren Kinder in größtenteils strukturell und erzieherisch veralteten Einrichtungen körperliche Misshandlungen, sexuelle Übergriffe, Demütigungen und Erniedrigungen, deren Folgen nicht selten ihr gesamtes Leben überschatteten. Ihre Stimmen blieben leise, was der Grund für die Errichtung der Stiftung Anerkennung und Hilfe war, die 2017 unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gemeinsam mit Ländern und den beiden großen Kirchen ins Leben gerufen wurde. Dr. Rolf Schmachtenberg vom BMAS zeigte in seinem Vortrag die Aufgaben der Stiftung auf, die erstens in der öffentlichen Anerkennung der Verantwortung, zweitens in der der unabhängigen, wissenschaftlichen Beleuchtung der Zeit und drittens vor allem in der Aufarbeitung individueller Schicksale und - sofern möglich – Entschädigung liegen. Alle »drei Säulen« seien bislang mehr oder weniger erfolgreich umgesetzt, wobei vor allem die Herstellung einer nachhaltigen Öffentlichkeit für das Thema eine Daueraufgabe bliebe, so Schmachtenberg. Er wünscht sich hierzu Gedenktafeln - »ganz einfach«.


Die individuellen Schicksale bebilderte die Geschäftsführerin der Lebenshilfe – Landesverband Brandenburg e.V., Susanne Meffert in ihrem Beitrag zur Tagung. Sie wies insbesondere darauf hin, dass auch heute noch Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht frei von Zwang und Gewalt seien. Dagegen gebe es zwar gute Konzepte, aber an der Finanzierung hapere es in den meisten Fällen.

Dr. Thorsten Hinz, Vorstand der Stiftung St. Franziskus und ehemaliges Mitglied des Lenkungsausschuss der Stiftung Anerkennung und Hilfe, bekräftigte diesen Eindruck mit einem nüchternen Blick auf die Umsetzungsfortschritte des BTHG, die oftmals geprägt seien von einem »Hauen und Stechen um jeden Cent«. In Bezug auf die Stiftungsarbeit, die 2023 »mit dem Erreichen des Stiftungsziels« zu Ende geht, zog er positive Bilanz, gab jedoch zu bedenken, dass man zwar eine große Anzahl Betroffener angesprochen und deren Schicksale sichtbar gemacht habe, es jedoch viele weitere Opfer jener »totalen Institutionen« (nach Erving Goffman) gebe, die aus verschiedenen Gründen noch nicht erreicht werden konnten. Sie seien nicht zuletzt Opfer des »vorherrschenden Desinteresses« gegenüber dem Schicksal von psychisch kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen, das die unterschiedlichen Systeme in Ost und West einte.

Prof. Dr. Renate Schepker vom Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg berichtete schließlich über den Gewalt(-schutz) in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der 90er Jahre bis in Gegenwart. Sie sah die DKG-Empfehlung von 2016, in den Einrichtungen geltende Schutzkonzepte zu entwickeln, zum Zeitpunkt der Evaluation 2019 nur unzureichend durchgesetzt. Für eine flächendeckende Umsetzung brauche es verpflichtende Bestimmungen.


In der abschließenden, von Jörg Holke, Geschäftsführer der Aktion Psychisch Kranke e.V., moderierten Gesprächsrunde kam zusätzlich zu den bisherigen Referierenden mit Rainer Schaff vom Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG) eine weitere Perspektive hinzu, die noch einmal mehr darum warb, in dem Erfahrungsschatz der Betroffenen die wertvolle Ressource zu erkennen, die er darstellt. Insgesamt blickte man auf dem Podium positive auf die Arbeit der Stiftung Anerkennung und Hilfe. Einig war man jedoch auch, dass damit nur ein Anfang getan ist. Die Anerkennung der individuellen Leidensgeschichten muss nach vorne den Weg bereiten zu mehr Teilhabe, (noch) weniger Gewalt und damit einhergehend zur Deinstitutionalisierung des gesamten Systems.

Die Verbände im Kontaktgespräch Psychiatrie:

  • Bundesverband Angehöriger Psychisch Kranker (BApK)
  • Bundesverband Psychiatrie-Erfahrene (BPE)
  • Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB)
  • Der Paritätische Wohlfahrtsverband
  • Dachverband Gemeindepsychiatrie
  • Aktion Psychisch Kranke (APK)
  • Arbeiterwohlfahrt Bundesverband (AWO)
  • Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde (BAG GPV)
  • Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (DGSP)
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde       (DGPPN)   
  • Fachbeirat Psychiatrie im CBP
  • Bundesweites Netzwerk Sozialpsychiatrische Dienste
  • Deutsches Rotes Kreuz
  • Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie
  • Diakonie Deutschland
  • Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG)

Mit Unterstützung der Stiftung Topographie des Terrors